27. - 30. März 2025 Leipziger Buchmesse
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27.04.2023 Leipziger Buchmesse

Ein Ort der Sprache und Verständigung, den es zu bewahren gilt

Gestern wurde mit einem Festakt im Gewandhaus die heutige Eröffnung der Leipziger Buchmesse gefeiert. Für das diesjährige Gastland der Buchmesse, Österreich, sprach Bundespräsident Alexander Van der Bellen. An diesem Abend wurde auch der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen – zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen Gedichtband. Er geht 2023 an die russisch-jüdische Dichterin Maria Stepanova für ihr weltpoetisches Werk „Mädchen ohne Kleider“. Den klangvollen Rahmen der Veranstaltung übernahmen der Organist des Gewandhauses, Michael Schönheit, und das Gewandhausorchester Leipzig unter der musikalischen Leitung von Herbert Blomstedt.

Endlich ist sie wieder da, die Leipziger Buchmesse, und wie groß die Freude und Erleichterung über ihre Rückkehr sind, brachten die prominenten Redner:innen beim gestrigen Festakt deutlich zum Ausdruck. Als Ort des offenen Meinungsaustausches über alle Grenzen hinweg nimmt Leipzig seit Jahren eine zentrale Rolle in Europa ein. Auch deswegen, weil auf der Buchmesse Stimmen eine Bühne gegeben wird, die überall gehört werden sollten. Wie die der diesjährigen Preisträgerin Maria Stepanova. Ihr Gedichtband „Mädchen ohne Kleider“ wurde mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Diesen Preis verleihen die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und die Leipziger Messe seit 29 Jahren Persönlichkeiten, deren geistiges und literarisches Werk dem gegenseitigen Verständnis in Europa und der Welt gewidmet ist sowie zeitgeschichtliche Zusammenhänge berücksichtigt. Ein Thema wie es aktueller und wichtiger nicht sein könnte.

Burkhard Jung: Was macht der Krieg mit uns? Und wie können Worte dagegen helfen?

„Mitten in diesem Wahnsinn, in diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine, zeichnen wir eine russische Autorin mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung aus. Unsere Position ist klar, wir stehen fest zu der Ukraine. Wir suchen aber auch den Weg der Verständigung, der Diplomatie. Ein wichtiger Ort dafür ist auch die Buchmesse, die traditionell eine wichtige Schnittstelle zu Osteuropa bildet“, betonte Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung in seiner Rede während des Festaktes. Solche Orte, an denen man offen diskutieren, frei Fragen stellen und gemeinsam Antworten entwickeln könne, brauche es gerade in diesen herausfordernden Zeiten mehr denn je. „Literatur kann uns helfen, denn sie hat die Kraft, uns anzurühren, zu erfassen, und vielleicht kann sie auch dazu beitragen, Hass und Wut zu überwinden“, so das Stadtoberhaupt. „Sie kann aber auch ein Stachel im Fleisch sein, weil Worte offensichtlich als Waffen begriffen werden. Diktatoren fürchten Worte deswegen und machen diejenigen mundtot, die sich trauen, ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit, den Hass und die Diktatur zu erheben.“

Karin Schmidt-Friderichs: Alles Menschenmögliche tun, um die Demokratie zu stabilisieren

Sich für die Demokratie stark zu machen, dafür warb auch Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Nichts für selbstverständlich zu halten, ist ein Teil davon – das hat auch die noch nahe Vergangenheit gezeigt: Eine Pandemie legt weltweit über Jahre das öffentliche Leben lahm und Russland führt seit nunmehr 14 Monaten einen zerstörerischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das seien keine dystopischen Szenarien, sondern unsere Realität, so Karin Schmidt-Friderichs. „Wir hätten die Köpfe geschüttelt und wären zum freudigen Tagesgeschehen des Bücher-Feierns übergegangen. Heute halten wir unsere freiheitlich demokratische Grundordnung für so sicher, wie wir 2019 in diesem Saal die Leipziger Buchmessen der Folgejahre einschätzten“, sagte sie in ihrer Rede. Immer mehr würden Demokratien jedoch von autoritären Staatenlenkern wie Wladimir Putin bewusst verhöhnt und ausgehöhlt. „Demokratie ist aber die einzige Staatsform, in der Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Bildung und sexueller Orientierung die gleichen Rechte zuteilwerden und alle ihre Meinung frei äußern können“, so die Vorsteherin des Börsenvereins. Diese Staatsform zu verteidigen, sei daher die wichtigste Aufgabe aller – und Buchmessen seien Orte, an denen dies auf vielfältige Weise geschehe, ob in Form von Aufklärung, Debattenkultur oder als Plattform für ukrainische und exilrussische Stimmen.

Claudia Roth: Die Messe ist ein politischer Ort und das muss sie bleiben

Mit bewegenden Worten verlieh die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, ihrer Freude über die Wiedereröffnung der Leipziger Buchmesse Ausdruck. „Ich lass mir diese Buchmesse nicht wegnehmen, um alles in der Welt nicht“, zitierte sie sich selbst aus einem Zukunftsgespräch, das nach der Absage 2022 geführt wurde. „Ich freue mich von Herzen, dass die Leipziger Buchmesse nach drei Jahren endlich wieder stattfindet. Denn besonders sie ist eine Brücke in die Welt, die immer wieder neu entdeckt werden will“, betonte Claudia Roth. Die Messe sei ein politischer Ort und das müsse sie auch bleiben. „Bleiben muss auch die unbändige Kraft der Literatur, die Macht der Kunst – vor der sich die Autokraten und Diktatoren so sehr fürchten“, so die Staatsministerin. Dass auch „unsere ukrainischen Freund:innen auf der Messe vertreten sind“, sei keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, in denen dieses Land die Existenz seiner Bewohner:innen verteidigen müsse, sagte Claudia Roth. „Und die Ukrainer:innen verteidigen nicht nur ihre eigene Kultur, sie verteidigen die Kultur – auch die russische – gegen Gewalt und Zerstörung und für eine Verständigung untereinander.“ Die Bereitschaft, einander zuzuhören und offen miteinander zu debattieren, habe in der Gesellschaft drastisch abgenommen. „Die Frage, in welcher Gesellschaft wir heute leben und morgen leben wollen, ist wichtiger als je zuvor.“

Michael Kretschmer: Es muss unsere Aufgabe sein, den Hass, der durch solch einen Krieg entsteht, durch Menschlichkeit zu tilgen

Der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen schloss sich seiner Vorrednerin an: „Ich sehe es genauso wie Claudia Roth, wir lassen uns die Buchmesse nicht wegnehmen“, bekräftigte er. „Die Buchmesse hat ihren festen Platz in unserer Gesellschaft, und mehr als 2000 Aussteller aus über 40 Ländern dokumentieren, wie wichtig diese Messe und ihr einzigartiges Format ist, das so sehr zu dieser Stadt passt. Für den Freistaat Sachsen ist die Buchmesse eine enorm wichtige Veranstaltung, weil sie öffentlich Gelegenheit bietet, miteinander ins Gespräch zu kommen und auch kontroverse Fragen zu diskutieren.“ Dies sagte auch er in Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine. „Wir haben keinen Krieg mit den Russ:innen. Wir haben Krieg mit einem Diktator. Wir müssen unterscheiden zwischen denen, die den Krieg wollen – und denen, die ihn ertragen müssen. Es muss unsere Aufgabe sein, den Hass, der durch solch einen Krieg entsteht, einzudämmen und durch Menschlichkeit zu tilgen. Autor:innen wie Maria Stepanova, die Preisträgerin des diesjährigen Buchpreises zur Europäischen Verständigung, täten dies durch ihre eindringlichen Worte.

Alexander Van der Bellen: Kaum sind die Autor:innen bekannt, wechseln sie zu einem deutschen Verlag

„Als guter Gast bringt man zum Besuch ein Geschenk mit, ein Packerl, wie wir in Österreich sagen. Nach Leipzig haben wir daher eine wunderbare Zusammenstellung österreichischer Autor:innen mitgebracht und auch vier Buchhändler:innen, die mit Herzblut und Hirnschmalz bei der Sache sind“, leitete der Bundespräsident des Gastlandes Österreich, Alexander Van der Bellen, seine Rede ein. Er sprach über die Unterschiede der deutschen Sprache in Deutschland und Österreich, die Vielfalt der Mundarten und die daraus resultierenden Vorteile für diejenigen, die mehrsprachig aufwachsen. Dass Dutzende österreichische Autor:innen bei kleinen österreichischen Verlagen beginnen würden – und dann zu deutschen Verlagen wechseln würden, sobald sie bekannt seien, bedauere er jedoch. „Ich danke unseren österreichischen Verlagen umso mehr für diese Scoutrolle“, lobte Alexander Van der Bellen die Branchenvertreter:innen seines Landes.

Ilma Rakusa: Absoluter Höhepunkt im aktuellen Stimmenkonzert der Weltpoesie

Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Ilma Rakusa hielt die Laudatio auf Preisträgerin Maria Stepanova und lobte sie als „absoluten Höhepunkt im aktuellen Stimmenkonzert der Weltpoesie“ und „zauberische Verwandlerin“, die „mal mit feinem Pinselstrich, mal im Volksliedton, mal mit philosophischem Räsonnement“ die condition humaine erkunde, „ohne deren russische Spielart zu vernachlässigen“. Ihre Hauptaufgabe sehe die Autorin aber darin, der staatlichen Verfälschung der Geschichte entgegenzuwirken. Ihr Grundantrieb sei Gerechtigkeit, „(...) eine Ethik des Mitleids, um insbesondere die vergessenen Toten wieder ans Licht zu holen, sichtbar zu machen“. Zentrales Thema fast all ihrer Bücher sei die „Erinnerung, die Fragmente der persönlichen und der kollektiven Geschichte sichtet, sammelt und sortiert, um sie in neue, ungewohnte Zusammenhänge zu rücken und dem Vergessen zu entreißen“, brachte Ilma Rakusa es auf den Punkt.

Maria Stepanova: Die Arbeit des Verstehens wird, wie die Arbeit der Lyrik, nie allein getan

„Ich bin allen, die sich heute hier versammelt haben, zutiefst dankbar – für die seltene Freude des gemeinsamen Denkens, über die Sprachen hinweg, über die Gedichtzeilen hinweg – und für die Tatsache, dass man selbst in den dunkelsten Zeiten ein Gedicht mit einem Händedruck beantworten kann“, bedankte sich die russisch-jüdische Preisträgerin bei den Anwesenden. Sie fasste aber auch ihren Schmerz in Worte, in einer Sprache zu sprechen und zu schreiben, „die ihr eigenes Leben zusammen mit dem Leben anderer auslöscht“ und fragte: „Was aber tun, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird?“ Durch ihre Geburt und Staatsangehörigkeit sei sie mit einem Land verbunden, „das jetzt versucht, Europa zurück in die Vergangenheit zu werfen – zurück zu einem Punkt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, an dem die Sprache des Hasses versucht hatte, universell zu werden“, so die Autorin. „Auch ich gehöre zu denen, die in russischer Sprache schreiben und die versuchen, sie im Namen der Zukunft neu zu gestalten – und wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen tue ich mein Bestes, um mich den Kräften zu widersetzen, die unsere Sprache als Instrument der Gewalt und des Todes missbrauchen.“

Quelle: Leipziger Messe/Jens Schlüter
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